Die Verdammten dieser Erde: Fanon und die Psyche der Revolution

06.11.2025

FanonsDie Verdammten dieser Erde “ ist mehr als ein Buch: Es ist ein Werk, das das Gewissen stärkt, ein Atlas der Dekolonisierung, geschrieben mit der Tinte von Fleisch und Feuer. Franz Fanon sollte in keiner Bibliothek fehlen. Ein Manifest für den antikolonialen Kampf, Essays zur Ethnopsychiatrie und ein Buch über die Mechanismen politischer und psychologischer Unterdrückung, die Schwarzen Menschen vorbehalten sind. „Die Verdammten dieser Erde“, wahrlich. Fanon schreibt nicht als Beobachter. Er schreibt als ein verwundeter Mann. Als Psychiater, der die gebrochenen Körper und zerrissenen Seelen der französischen Herrschaft in Algerien miterlebte. Als Kämpfer der Nationalen Befreiungsfront. Als Schwarzer Mann, der verstand, dass Hautfarbe eine soziale Verdammnis, aber auch eine Möglichkeit zur Erlösung ist.


„Die Verdammten dieser Erde“ drängt sich ein Gedanke unweigerlich auf : Kolonialisierung ist nicht nur eine historische Tatsache, sondern ein psychischer Zustand. Sie beschränkt sich nicht auf die Besetzung von Land, sondern dringt in die Subjektivität ein. Herrschaft wird nicht nur mit Waffen oder Gesetzen ausgeübt, sondern auch mit Bildern, Worten und Diagnosen. Das vorliegende Werk ist weder eine politische Abhandlung noch ein einfaches revolutionäres Manifest: Es ist eine Sektion der kolonisierten Seele, eine Kartografie von Schmerz und Wut, eine Klinik der Befreiung .

Der Autor, ein Arzt und Aktivist , erlebte den Bruch zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und der Erfahrung des Kampfes. Er sah, wie der Kolonialismus das Denken durchdringt , wie er den Körper in ein Schlachtfeld verwandelt, wie er die Identität zu einer aufgezwungenen Karikatur reduziert . Der Kolonisierte ist in diesem Kontext nicht einfach ein unterdrücktes Subjekt: Er ist ein gespaltenes, entfremdetes Wesen, gezwungen, in einer Realität zu leben, die ihn verleugnet. Seine Existenz ist eine ständige Spannung zwischen dem, was er ist, und dem, was man ihm über sich selbst sagt. Und diese Spannung erzeugt Symptome, führt zu Neurosen, entlädt sich in Gesten, die die westliche Psychiatrie oft als Pathologien interpretiert hat, die in diesem Text jedoch als Zeichen des Widerstands neu gedeutet werden.

Gewalt, die viele fälschlicherweise als Entschuldigung interpretiert haben, wird hier als Notwendigkeit beschrieben. Nicht als Zweck an sich, sondern als Mittel, das Schweigen zu brechen. Es ist die Sprache, die die Kolonisierten von ihren Unterdrückern lernten, die einzige, die ihnen zustand. Doch sie ist auch die Geste, mit der sie ihren Körper, ihre Stimme, ihre Geschichte zurückerobern. Es geht nicht darum, Zerstörung zu rechtfertigen, sondern den Prozess zu verstehen, durch den Identität neu geformt wird. Befreiung ist kein rein politischer Akt: Sie ist eine ontologische Transformation. Wer sich befreit, kehrt nicht einfach zu dem zurück, was er vorher war, sondern wird zu etwas anderem. Er erfindet sich neu. Er schreibt sich selbst um.

In diesem Sinne ist der Text auch eine vernichtende Kritik an der postkolonialen Bourgeoisie, die Gefahr läuft, dieselbe Herrschaftslogik fortzuführen. Der Autor misstraut Eliten, die lediglich die Machthabenden ersetzen wollen. Wahre Revolution, so sagt er, muss von unten kommen, von den Verdammten, von denen, die Ausgrenzung als existenzielle Bedingung erfahren haben. Nur wer Demütigung erlebt hat, kann eine neue Welt erschaffen. Und diese Welt darf keine Kopie des Westens sein: Sie muss etwas anderes sein. Eine andere Vorstellung von Gesellschaft, von Kultur, von Menschlichkeit.

Die psychoanalytische Dimension ist zentral. Der Kolonisierte ist ein Subjekt, das Verachtung verinnerlicht hat, sich selbst mit den Augen anderer betrachtet und das begehrt, was ihn zerstört. Befreiung ist daher auch Heilung. Eine kollektive Therapie. Ein Prozess der Dekolonisierung des Unbewussten. Es genügt nicht, Institutionen zu verändern: Wir müssen Träume, Ängste und Fantasien verändern. Wir müssen aufhören, nach der Anerkennung der Herrschenden zu gieren und beginnen, uns eine Welt ohne Herrschende vorzustellen.

Dieses Buch spricht auch heute noch. Nicht nur zu den Menschen, die Kolonialisierung erlebt haben, sondern zu jedem, der Macht, Identität und die Möglichkeit von Freiheit hinterfragt. Es ist ein Text, der keinen Trost, keine einfachen Lösungen und keine oberflächliche Lektüre bietet. Es ist eine Einladung zum Nachdenken, zum Fühlen, zum Kämpfen. Zur Erkenntnis, dass die Geschichte noch nicht zu Ende ist, dass die Wunden nicht verheilt sind, dass die Freiheit noch nicht errungen ist.

Und vielleicht ist es vor allem ein Aufruf zur Verantwortung. Ein Aufruf, nicht wegzusehen. Sich nicht mit den vorherrschenden Narrativen zufriedenzugeben. Den Stimmen vom Rand zuzuhören. Denn in diesen Stimmen, in diesen Körpern, in diesen widerständigen Köpfen liegt eine Wahrheit, die uns alle betrifft: die Möglichkeit, endlich Mensch zu werden.



Trauma als Ausgangspunkt

Franz Fanon schreibt nicht von einem akademischen Podest, sondern aus einer offenen Wunde. „ Die Verdammten dieser Erde“ ist der Schrei eines Menschen, der den Kolonialismus nicht als geopolitische Theorie, sondern als Seelenkrankheit verstand. Die Kolonisierten werden nicht nur ihres Landes, sondern auch ihrer Sprache, ihres Aussehens, ihrer Träume beraubt. Ihre Identität wird ihnen genommen, ihre Erinnerung umgeschrieben, ihre Wut pathologisiert .

Fanon, ein Psychiater und Aktivist, verstand, dass Befreiung nicht rein politisch sein kann. Sie muss auch psychologisch sein. Der Kolonisierte ist ein zerrissenes Individuum, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Anerkennung und der Unmöglichkeit, diese zu erlangen. Sein Geist ist das erste Schlachtfeld.


Soziologie der kolonialen Subjektivität

Der Kolonialismus besetzt nicht nur Gebiete, sondern auch das Bewusstsein. Fanon beschreibt eine hierarchisch gegliederte Kolonialgesellschaft, in der der Kolonisator das Zentrum und die Kolonisierten die Peripherie der Menschheit bilden. Diese Hierarchie ist nicht nur ökonomisch, sondern auch symbolisch. Schwarz ist das Gegenteil von Weiß, der Barbar das Gegenteil des Zivilisierten. Die Kolonialgesellschaft ist eine semiotische Maschine: Sie produziert Bedeutungen, die Herrschaft rechtfertigen. Die Kolonisierten werden als infantil, impulsiv und gewalttätig beschrieben. Doch Franz Fanon kehrt diese Erzählung um: Die Gewalt der Kolonisierten ist eine Reaktion, nicht der Ursprung. Sie ist die Sprache, die sie von ihren Unterdrückern gelernt haben.


Philosophie der Befreiung

Franz Fanon schlägt keine einfache Emanzipation vor. Er plädiert für eine Metamorphose. Die Kolonisierten müssen das Bild, das ihnen der Kolonisator aufgeprägt hat, zerstören. Sie müssen aufhören, Inklusion zu fordern und beginnen, eine neue Welt zu erschaffen. Dekolonisierung ist kein Reformprozess, sondern ein Bruch. In diesem Sinne ist Fanon ein Philosoph des Ereignisses. Revolution ist kein allmählicher Übergang, sondern ein ontologischer Sprung. Sobald die Kolonisierten sich ihrer Lage bewusst werden, werden sie nicht nur frei: Sie werden zu etwas anderem. Ihre Subjektivität wird in einem Akt der Schöpfung neu zusammengesetzt.


AKTION 



Psychoanalyse des Kampfes

Gewalt hat bei Fanon eine kathartische Funktion. Sie ist nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch Therapie. Die Kolonisierten befreien sich durch Kampf von dem verinnerlichten Gift. Sie erobern ihren Körper, ihre Stimme, ihren Raum zurück. Revolution ist auch ein Heilmittel. Doch Fanon warnt: Die Gefahr besteht, dass die Befreiung an der Oberfläche stagniert. Dass postkoloniale Eliten dieselben Machtstrukturen reproduzieren. Wahre Heilung ist tiefgreifend. Sie erfordert eine Transformation des Begehrens, eine Umschreibung des kollektiven Unbewussten. In einer Welt, die noch immer von Rassismus, Ungleichheit und Neokolonialismus geprägt ist, Franz Fanon relevanter denn je. Er bietet uns keine einfachen Lösungen, sondern zwingt uns, nach innen zu schauen. Uns zu fragen: Welche Bilder haben wir verinnerlicht? Welche Stimmen sprechen in uns? Welche Revolutionen haben wir aufgegeben, uns vorzustellen?


MIT ANDEREN WORTEN


Es gibt ein Werk, das nicht gelesen, sondern durchdrungen wird. Es wird nicht studiert, sondern ertragen. Es wird nicht interpretiert, sondern gefühlt. Es ist ein Text, der nicht nur von Dekolonisierung spricht, sondern sie verkörpert, inszeniert, sie lautstark verkündet. Es ist ein Buch, das sich nicht mit der Erklärung von Gewalt begnügt, sondern sie in der Sprache vibrieren lässt. Es beschreibt kein Trauma, sondern vermittelt es. Auf diesen Seiten ist das Wort kein Kommunikationsmittel, sondern ein Zünder. Jeder Satz ist ein Splitter, jeder Begriff eine pochende Wunde. Doch unter der glühenden Oberfläche verbirgt sich eine strenge theoretische Struktur, ein philosophisches und psychoanalytisches Gerüst, das es verdient, langsam, respektvoll und mit angehaltenem Atem erforscht zu werden.

Der Autor schreibt nicht aus neutraler Perspektive, sondern mitten im Geschehen. Er ist kein Revolutionstheoretiker: Er ist ein Mensch, der den Krieg erlebt hat, eine Seele, die Zerrissenheit erfahren hat. Seine Stimme ist die eines Zeugen des kolonialen Wahnsinns aus nächster Nähe, in den gebrochenen Körpern der Patienten, im erzwungenen Schweigen, in den zerstörten Träumen. Kolonialisierung ist auf diesen Seiten nicht bloß eine politische oder wirtschaftliche Tatsache: Sie ist ein chirurgischer Eingriff an der Identität. Es ist ein Prozess, der in die Psyche eindringt, der Erinnerungen umschreibt, der ein verzerrtes Bild des Anderen aufzwingt. Die Kolonisierten werden nicht nur ihres Landes beraubt, sondern auch ihres Gesichts, ihres Namens, der Möglichkeit zu begehren.

Der Text zwingt uns, Gewalt neu zu denken. Nicht als Exzess, sondern als Grammatik. Nicht als Anomalie, sondern als Reaktion. Die koloniale Ordnung basiert auf einer radikalen Asymmetrie, auf einer Hierarchie, die nicht nur materiell, sondern auch symbolisch ist. Die Beherrschten werden als infantil, instinktiv, animalisch beschrieben. Und so sprechen sie, wenn sie rebellieren, einfach die Sprache, die man ihnen beigebracht hat. Die Gewalt der Kolonisierten ist nicht blind: Sie ist klar. Es ist der Moment, in dem der Körper sich selbst zurückerobert, in dem Subjektivität durch Handeln neu geformt wird. Es ist kein Lobgesang auf die Zerstörung, sondern eine Analyse der Notwendigkeit. Befreiung ist hier kein allmählicher Prozess, sondern ein Ereignis. Ein Sprung. Eine Metamorphose.

Doch der Autor begnügt sich nicht mit der Oberfläche des Kampfes. Er dringt tiefer vor. Er hinterfragt die Psyche. Er zeigt, wie Unterdrückung in Träumen, Tics und Versprechern nistet. Wie die Kolonisierten das Bild des Herrschers verinnerlichen, wie sie sich selbst hassen, wie sehr sie sich danach sehnen, jemand anderes zu sein. Befreiung kann daher nicht nur äußerlich sein. Sie muss auch innerlich sein. Sie muss eine Dekonstruktion des kolonialen Unbewussten, eine Umschreibung der Begierde beinhalten. Revolution ist auch eine Therapie. Eine kollektive Heilung. Eine Pädagogik des Erwachens.

Doch es besteht die Gefahr, dass der Kampf auf halbem Weg abbricht. Dass die postkolonialen Eliten lediglich die Gesichter austauschen und die Strukturen unangetastet lassen. Dass Befreiung zur bloßen Nachahmung verkommt. Der Autor weiß das. Und er spricht es aus. Der wahre Bruch erfolgt nicht nur mit dem Kolonisator, sondern mit dem von ihm aufgezwungenen Weltbild. Wir müssen erfinden. Erschaffen. Nicht um Zugehörigkeit bitten, sondern einen anderen Horizont erschaffen. Eine andere Vorstellung von Menschlichkeit.

Dieses Buch hat bis heute nichts von seiner Kraft eingebüßt. In einer Welt, die noch immer von rassistischer Ungleichheit, wirtschaftlichem Neokolonialismus und unheilbaren Wunden geprägt ist, spricht es weiterhin. Nicht nur zu jenen, die Unterdrückung erfahren haben, sondern auch zu jenen, die Privilegien hinterfragen wollen. Es ist ein Text, der nicht tröstet, sondern aufrüttelt. Er beruhigt nicht, sondern stellt Fragen. Er bietet keine Antworten, sondern öffnet Abgründe.

Es zu lesen bedeutet, sich preiszugeben. Es bedeutet, sich Fragen zu stellen. Es bedeutet zu erkennen, dass Freiheit kein Selbstverständlichkeit, sondern ein Ergebnis ist. Dass Identität kein Wesenszustand, sondern ein Prozess ist. Dass die Geschichte noch nicht abgeschlossen, sondern noch nicht zu Ende ist. Und dass die erste revolutionäre Geste vielleicht darin besteht, jener Stimme zuzuhören, die uns von anderswo ruft. Nicht um Mitleid zu erregen. Sondern um Gerechtigkeit zu fordern. Denn in diesem Schrei, in dieser Wut, in dieser unerbittlichen Klarheit liegt etwas, das uns alle betrifft: die Möglichkeit, endlich Mensch zu werden.

A*G


„Die Verdammten dieser Erde“ ist nicht einfach nur ein Buch. Es ist ein Spiegel. Und in diesem Spiegel sehen wir die Gesichter derer, die darum ringen, menschlich zu werden.


AKTION




Jeder Mensch wird in ein Meer von Wahrnehmungen hineingeboren. Das Bewusstsein ist das erste Ufer, das wir berühren: ein zerbrechlicher Landeplatz, der es uns erlaubt, „Ich“ zur Welt zu sagen. Doch Bewusstsein ist kein statischer Zustand: Es ist Bewegung, ein Fluss, der sich in jedem Augenblick erneuert. Es ist die Fähigkeit zu erkennen, dass wir leben und dass…

„Künstliche Intelligenz ist weder der Feind der Menschheit noch ihr Ersatz. Sie ist ein Spiegel, der uns zeigt, wer wir sind und wer wir werden könnten. Sie wird es nicht schlechter machen als wir, sie wird es nicht besser machen als wir: Sie wird es anders machen. Und in diesem Unterschied, wenn wir lernen, ihn zu nutzen, werden wir eine neue Form der Menschlichkeit finden.“

Nicht alle Künstler versuchen, den Fluss der Zeit anzuhalten : Manche jagen ihn wie ein wildes Tier, andere durchströmen ihn wie einen reißenden Fluss. Thomas Dhellemmes gehört zur zweiten Gruppe: Seine Fotografie ist kein Akt der Fixierung, sondern der Bewegung. Er friert den Moment nicht ein, er lässt ihn fliehen. Er konserviert ihn nicht, er...